Töten

Die gravierende Entwertung menschlichen Lebens durch den Ersten Weltkrieg und die anschließende Wirtschaftskrise verstärkten gleichzeitig Forderungen, die über die Sterilisation weit hinausgingen. Dahinter verbarg sich die Zielstellung, den Staat nicht erst in folgenden Generationen zu entlasten, sondern sofort und zwar durch Tötung derjenigen, die als „unwertes Leben“ und „Ballastexistenzen“ galten.

Ausgangspunkt der Argumentation war die Frage nach dem Nutzen des Einzelnen für die Gemeinschaft. In diesem Sinne forderten der Jurist Karl Binding (1841-1920) und der Psychiater Alfred Hoche (1865-1943) in ihrem 1920 erschienenen Buch die  „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Gemeint waren vor allem Menschen, die sich wegen Krankheit oder Alter über ihren Willen zum Leben nicht äußern konnten. Ihre Existenz sollte der Entscheidung einer staatlichen Kommission unterworfen werden.

Der Arzt  Ewald Meltzer (1869-1940) war einer der wenigen, die sich der Auffassung von Binding und Hoche entgegen stellten. Eine von ihm 1920 durchgeführte Umfrage ergab jedoch, dass sich 73 Prozent der befragten Eltern geistig behinderter Kinder mit deren schmerzloser Tötung einverstanden erklärten. Für seine Veröffentlichung über „Das Problem der Abkürzung ‚lebensunwerten’ Lebens“ (1925) hatte er auch Vertreter der Kirchen befragt. Während einige von ihnen die Tötungen grundsätzlich ablehnten, argumentierten andere mit der Existenz behinderter Kinder als Warnung Gottes vor Lastern oder machten das Lebensrecht eines Menschen von einem Seelenleben als Voraussetzung für Religiösität abhängig.